Bei Nacht und Nebel
Unsere Tochter liebt Minecraft. Sie ist sechs und erfährt den friedlichen Kreativ-Modus wie Lego, aber mit unendlich vielen Steinen. Ihr echtes Lego hat sie von ihrem Bruder und von mir geerbt und das ist nach zwei Generationen schon recht ordentlich angewachsen. Für ganze Wälder, Berge und geräumige Häuser reicht es aber dann doch nicht. Minecraft kennt diese Grenze nicht und so baut sie dort Häuser am Meer, im Schnee, auf Bergen und sogar auf Bäumen. Letzteres ist ihr aktuelles Projekt und es zeigt architektonisch bereits gewaltige Fortschritte im Vergleich zu ihrem ersten Haus. Es gibt zwei Etagen, moderne Verglasung und sogar ein Sprungbrett ins angrenzende Meer. Ein Traumhaus in den Kronen eines kleinen Dschungels. Nicht schlecht.
Zusammen entdecken wir irgendwann die Möglichkeit Lebewesen in der Welt zu erschaffen. Nur wenige Minuten später wimmelt es von Katzen. Es ist mir mittlerweile nicht mehr möglich, irgendeines ihrer Häuser zu betreten und nicht von mindestens drei Katzen angeschaut und anmiaut zu werden.
Dann bringe ich eine fatale Idee ins Spiel: Ich schlage ihr vor, weitere, nicht vom Spiel im Zuge der Weltkarte generierte Dorfbewohner zu erschaffen. Ich erkläre ihr, dass es doch bestimmt witzig ist, wenn in ihrer Welt noch andere Menschen umherlaufen. Sie überlegt kurz und ruft dann sechs Dorfbewohner ins virtuelle Leben.
Nach anfänglicher Verunsicherung wuseln diese relativ zügig in einen nahgelegenen Wohnkomplex, den meine Tochter gebaut hat. Sie scheinen sich dort auch gleich sehr wohl zu fühlen, besetzen das gesamte Gebäude und lassen sich auch nicht von den Katzen stören. Ich bin beeindruckt. Das ist das, was ich mir damals von den Urzeitkrebsen versprochen hatte. Ich lache. Meine Tochter nicht.
Sie findet die Idee im Nachhinein nicht besonders gut, möchte die fremden Menschen nicht in ihrem Haus haben und zieht sich genervt in ihr Baumhaus zurück. Sie macht mir unmissverständlich klar, dass das mein Schaffen war. Offensichtlich spürt sie wegen mir eine starke Erschütterung der Macht in ihrer Welt. Verdammt. Ich verspreche ihr, das wieder in Ordnung zu bringen. Irgendwie. Morgen, sage ich, sei ihre Welt bestimmt wieder wie vorher. Ohne die Dorfbewohner.
Es ist Abend und unsere Tochter liegt im Bett, während ich schnell noch einmal ihre Welt in Minecraft betrete. Dort ist es finstere Nacht. Im friedlichen Modus gibt es eigentlich keine Monster, die nachts heraus kommen und eine Bedrohung für die Dorfbewohner darstellen. Heute Nacht schon.
Ich verlasse das Baumhaus über den Balkon, erhebe mich in die Luft und fliege über den Dschungel zum nahegelegenen Gebäude, in dem sich die Dorfbewohner niedergelassen haben. Ich lande und checke die Lage. In meiner Hand ein funkelndes, diamantenes Schwert.
Hinter der ersten Tür blicke ich dem ersten von ihnen ins Gesicht und erschlage ihn. Ich gehe von Tür zu Tür und verrichte mein dämonisches Werk. Zwei erwische ich in einer großen gläsernen Halle, die meine Tochter für die schöne Aussicht gebaut hat. Die beiden halten Händchen. Natürlich. Als wollte das Spiel alle Geschütze auffahren, seine virtuellen Bewohner vor mir zu retten, indem es an meine Vernunft appelliert. Sorry, aber ich bin nur ein verzweifelter Vater. Den letzten habe ich draußen vor der großen Glaswand auf der Flucht erschlagen, nachdem er mit ansehen musste, was vorher mit dem Pärchen passierte. Spätestens jetzt sollte unsere Tochter wieder eine Erschütterung der Macht spüren. Ich lausche in Richtung Kinderzimmer. Ruhe. Im Spiel fliege ich zurück ins Baumhaus, wo ich das Gefühl habe, dass mich alle Katzen schockiert anblicken. Ich verlasse die Welt.
Es gab in jüngster Zeit seitens der Entwickler so viele Versuche, bei Spielern von Videospielen durch unmoralisches Handeln Unbehagen herbeizurufen. Keines hat mich so an einer Tat zweifeln lassen, wie Minecraft es heute bei mir tat. Und alles nur für ein zufriedenes Lächeln meiner Tochter.
Kleines, solltest du das hier irgendwann einmal lesen: Das mysteriöse Verschwinden der Dorfbewohner in deiner Minecraft Welt sollte damit aufgeklärt sein. Sorry.