Neulich beim Warrior Cats Rollenspiel
Meine Tochter sitzt mit ihrem Headset an unserem Mac und klickt konzentriert mit der Maus auf dem Bildschirm herum. Der ist geteilt. Links zeigt der Browser die DuckDuckGo Bildersuche einer Katzenrasse an. Rechts läuft Roblox. Eine Umgebung für Spiele, die von einer eigenen Community bereitgestellt werden. Es gibt mittlerweile Tausende dieser Kreationen. Roblox ist ein Phänomen, das Ältere wahrscheinlich nur vom Namen kennen. Mit über 160 Millionen monatlich aktiven Spielern ist es bei den Jüngeren dafür sehr viel bekannter und auch ein Grund, warum die Erwachsenenserie Squid Game bei Kindern so bekannt ist. Die Serie hat dort einen spielbaren Ableger, der sich großer Beliebtheit erfreut.
Meine Tochter spielt in Roblox aber hauptsächlich Warrior Cats Ultimate Edition. Ein Fanprojekt zu einer Buchserie, die ebenfalls als Phänomen betrachtet werden kann. In über neunzig Büchern wird dort ein immer währender Kampf zwischen sogenannten Katzenklans beschrieben. Und selbst Kinder, die sonst nie ein Buch anrühren würden, werden hier plötzlich zu Leseratten. Es gibt bei uns zu Hause eine Regel, die besagt, dass Bücher, wenn gewünscht, immer gekauft werden können. Unabhängig vom Taschengeld. Warrior Cats drohte uns hier zum finanziellen Verhängnis zu werden. Binnen eineinhalb Jahren hatte unsere Tochter über siebzig Bücher der Reihe gelesen. Und damit steht sie nicht allein da. Beim Austausch mit anderen Eltern wird schnell klar, dass dies keine Seltenheit ist und auch bei anderen Kindern genau so abläuft. Wie gesagt, es ist ein Phänomen.
Auf dem Mac erstellt meine Tochter derweil einen Morph für die nächste Session im Roblox Warrior Cats. Ein Morph ist nichts anderes als der eigene Katzenavatar, der über einen komplexen Editor frei erstellt werden kann. Die Bildersuche von DuckDuckGo zum Thema Katze dient ihr dabei als Vorlage. Bis zu acht Kreationen können im Profil hinterlegt werden. Über Spielpässe, die für echtes Geld hinzugekauft werden können, kann die Auswahl auf 42 Plätze erweitert werden.
Mit dem neuen Avatar beginnt sie ihre Spielsession. Warrior Cats Ultimate Edition ist ein MMO mit Platz für bis zu sechzig Spieler pro Server. Man kennt sich aus den Discordkanälen der Entwickler, der Buchreihe und allgemein aus Kanälen, in denen oft auch abseits des Spiels Katzen, sogenannte OC (Original Creations) gezeichnet werden. Im Spiel angekommen gibt es lediglich eine Karte. Diese besteht aus Waldabschnitten, einer kleinen Ortschaft mit einer Handvoll Häusern, einem Berg, einer Scheune und einer größeren Schlucht. Das ist der Spielplatz für ein Spiel, das im klassischen Sinne keines ist. Sucht ihr hier ein Ziel, so gibt es lediglich einen Erfolg, der im entferntesten Sinne als solches zu definieren ist: Alle Arten von Kräutern, die es auf der Karte gibt, einmal aufsammeln. Ziele sind also irrelevant.
Stattdessen wird in Warrior Cats Ultimate Edition das Rollenspiel gepflegt und zwar in dessen Reinform. Ohne eine Geschichte, die vorgegeben ist. Ohne bereitgestellte Missionen, ohne Aufgaben und auch ohne Charaktereigenschaften, die ausgebaut werden könnten. Warrior Cats bietet nichts davon. Wie eine Sandkiste, in der es nicht viel gibt, außer der eigenen Fantasie. Wie LARP Spieler, die analog und im Freien das nachspielen, was sie digital in Rollenspielen oder am Dungeon & Dragons Tisch aufgesogen haben, verfrachtet Warrior Cats diese Kultur wieder zurück ins Videospiel. Der Kreis schließt sich ausgerechnet in Roblox.
Über den servereigenen Textchat oder via Discord wird ein Szenario erdacht, wenn nicht bereits eines besteht. Von romantischen Rollenspielen, in der sich zwei oder drei (o lala) Katzen kennenlernen und später weitere Spieler sogar deren Kinder spielen, über kriegerischere Varianten, wo zusammen über die Karte patrouilliert wird, bis hin zu Schlachten, die zwischen mehreren Klans ausgetragen werden. Klans, in denen Spieler jeweils eigene Rollen übernehmen, die wiederum nur untereinander zugeteilt wurden und nicht in Profilen sondern lediglich in den Köpfen aller Beteiligten existieren. Dargestellt werden diese Aktivitäten über eine Reihe von Posen wie etwa hinlegen, sitzen, einrollen oder schlafen. Auch hier ist das Spiel stark eingeschränkt, was niemanden zu stören scheint.
Interessant ist das Zusammenspiel zwischen Spiel und Chat. Ein Kampf wird rundenbasiert ausgetragen und ein Angriff besteht aus zwei Phasen: Zuerst schreiben Spieler, was sie zu tun gedenken, danach wird die Aktion mit dem Avatar manuell ausgeführt. So wissen Mitspieler, wie sie entsprechend zu reagieren haben. Möchte jemand zum Beispiel mit einem Sprung angreifen, wird „Jump“ in den Chat geschrieben oder gesprochen. Erst danach wird die Aktion dann auch manuell im Spiel ausgeführt und die angesprungene Katze weiß, dass sie sich im richtigen Moment hinlegen muss. Der Gegenangriff wird dann wiederum erst wieder im Text- oder Voicechat angekündigt. Über ein spezielles Menü im Spiel können passende Spuren, wie beispielsweise Wunden auf die Avatare übertragen werden, damit auch optisch klar ist, wer wie aus dem Kampf hervorgeht. Da ist es dann von Vorteil, wenn im eigenen Klan jemand einen Heiler spielt, der im Chat wortgewandt diese Wunden wieder heilen kann.
Nichts davon wird von einer Mechanik des Spiels unterstützt. Alles wird zwischen den Spielern kommuniziert. Gänzlich vorbei am Code des Spiels. Sämtliche Auseinandersetzungen werden dabei oft vorab einvernehmlich geklärt, damit nicht irgendwelche psychopathischen Katzen auf einem Server ungestraft Amok laufen können. Denn auch, wenn der Fantasie keine Grenzen gesetzt sind: Regeln, die besagen, wie weit beim Rollenspiel gegangen werden darf, gibt es trotzdem ein paar. Sich selbst umbringen ist zum Beispiel tabu. Obwohl das nach unserem Verständnis auch gar nicht geht. Wer nämlich in Warrior Cats Ultimate Edition sterben will kann sich nur hinlegen und nicht mehr bewegen. Das sollte man also nur tun, wenn man im Falle eines entsprechenden Roleplays erlegt wurde.
Natürlich ist auch alles verboten, was rassistischer, homo- oder transphober Natur ist. Diversität und Toleranz spielt in internationalen Discordgruppen der 11- bis Sechzehnjährigen naturgemäß eine große Rolle und wird dort entsprechend oft thematisiert. Das spiegelt sich auch in Warrior Cats Ultimate Edition wieder, wo es für die Katzenkreationen beispielsweise keine Möglichkeit gibt, überhaupt ein Geschlecht festzulegen, obwohl die Charakteristiken dazu durchaus gegeben sind. Eine weitere Regel besagt übrigens, dass Geburten nicht zu detailliert beschrieben werden dürfen. Kopfkino ist ja ein wichtiger Teil dieser Art des MMOs und offenbar wurde da bereits die ein oder andere Katze von schriftstellerischem Talent traumatisiert.
Gerade spielt meine Tochter ein sogenanntes Long Term Roleplay. Eine komplexe Geschichte, die sich alle teilnehmenden Spieler vorab ausgedacht haben und dann zusammen auf dem Server nachstellen. Sie ist Teil einer geheimen Gruppe, die den Anführer des befeindeten Flussklans heimtückisch erledigen will. Aktuell befinden sich die Intriganten allerdings noch in der Planungsphase und sitzen ränkeschmiedend im Kreis im hellen Schein des Mondlichts. Da möchte man als Vater gar nicht wissen, wie detailliert das Attentat dort in der Theorie ausgearbeitet wird. Ich bin dennoch gespannt wie es ausgeht und werde mir die weiteren Ereignisse genau erzählen lassen.
Klar ist, dass mir dieser Teil meines geliebten Hobbies Videospiel komplett fremd war. Ein mir völlig unbekannter Aspekt einer Welt, die ich meinte in- und auswendig zu kennen. Eine Welt, die mich immer wieder aufs neue mit ihrer Diversität überrascht. Und in der ich von nun an definitiv ganz anders auf das Thema Roblox blicke. Auch abseits von der Warrior Cats Community, in die ich dank meiner Tochter und ihrer Freunde einen kleinen, aber sehr interessanten Einblick erhalten habe.