Neulich in der Laguna Presa
Ich liebe den Multiplayer von Battlefield: Bad Company 2. Davor liebte ich Battlefield 1943. Ich habe es mit Bad Company 2 betrogen und bin damit über alle Berge. Ich halte es für perfekt. Nicht 40 von 40 Punkte-, 100 Prozent- oder 10 von 10 Sterne-Perfekt. Einfach für mich als Mensch perfekt. In einer hart durchzockten Nacht, gegen vier Uhr morgens bei einer dieser Multiplayer-Runden in Bad Company 2 aber wurde mir schlagartig klar, was dem Spiel fehlt.
Meine Müdigkeit ist bereits überwältigend, aber solange das Match läuft, ist an schlafen nicht zu denken. Niemals. Das Match hält die Augen offen. Würde jetzt der Strom ausfallen und der Bildschirm schwarz werden, mein Kinn würde auf der Stelle auf meine Brust kippen und ich tief und fest einschlafen. Aber das tue ich nicht. Ich sitze als Scharfschütze in einem Busch und beobachte die feindliche Basis. Alle Flaggen in der Laguna Presa sind von meinem Team eingenommen. Der Feind respawnt in seiner Basis und wird von einem halben Dutzend Heckenschützen, dem auch ich angehöre, sofort zurück in sein virtuelles Grab geschickt. Es läuft gut. Dann wird es ruhig.
Der Feind hat in seiner Basis Deckung bezogen. Nur einer huscht noch einmal quer über freies Gelände: GeneralAdonis97 (Name von der Redaktion geändert, das Alter nicht). Mein Nemesis. Nemesis wird man bei Bad Company, wenn es einem gelingt den gleichen Spieler fünfmal umzubringen. Das nervt. GeneralAdonis97 hat mich vor zwei Minuten das fünfte Mal umgebracht. Ich bin genervt. Ich und fünf andere Scharfschützen feuern auf den Adonis. Keiner trifft. Ruhe. Der Krieg steht still. Niemand schießt.
Mein Headset knarzt und ein französischer Teamkollege, ein Sanitäter neben mir in meinem Busch, fragt mich in gebrochenem Englisch, ob ich die Situation auch gespenstisch finde. Klar, sage ich. Es ist vier Uhr morgens, ich bin todmüde und bei Battlefield Bad Company 2 schießt niemand. Scheiße, das IST gespenstisch! Der Franzose stimmt mir zu. Ich frage ihn, warum er sich Erdbeere nennt und er sagt, dass er nichts auf der Welt so sehr liebt wie Erdbeeren. Ich kämpfe mit dem Einnicken. Er mag aber keine Nüsse. Das ist eine Vorlage, aber ich verzichte auf die Klugscheißerei mit der Erdbeere, die eigentlich, eventuell, ganz bestimmt oder vielleicht wegen irgendeinem Lexikon eine Nuss sein müsste.
Ein Schuss zischt durch die Luft und einer aus dem Assault-Team hinter unserem Busch wird erschossen. Von GeneralAdonis97. Scheiße, sage ich. Merde, sagt der Franzose. Wir einigen uns darauf, dass General_Adonis97 ein pubertierender Wichser ist und morgen wahrscheinlich eh mächtig viel Ärger in der Schule bekommt. Das Headset knarzt und der Typ aus dem Aussault-Team, amerikanischer Staatsbürger, schnauzt den Franzosen an und fragt, warum der kein Medipack wirft, wo er doch gerade angeschossen wurde. Der Franzose bleibt gelassen und schiebt die Schuld auf mich. Toll.
Es ist wieder totenstill in der Laguna Presa. Der Franzose fragt, ob wir mal was krasses erleben wollen. Der Amerikaner und ich reagieren verhalten, zeigen aber dezentes Interesse. Einige Minuten tut sich nichts. Ich werde immer müder, die Stille immer erdrückender. Wir sitzen zu dritt im Busch. Plötzlich knarzt das Headset und es ertönt Musik: “Non, Je ne regrette rien” von Édith Piaf. Einigen, wie auch mir, erst durch den Film “Inception” bekannt geworden. In der Laguna Presa klingt der knarzende Chansons wie ein Propaganda-Programm aus Militär-Lautsprechern. Ich sitze übermüdet in einem Busch, mein Mund steht leicht offen und ich bin irgendwie high. Die Situation ist wirklich krass. Der Franzose hat nicht zuviel versprochen.
Da wusste ich, was diesem Spiel fehlt: ein Feature, die Waffen fallen zu lassen und mit dem Friedenszeichen auf den Gegner loszugehen. Stell dir vor es ist Krieg und keiner macht mehr mit. Édith Piaf ist mit ihrem Gesang beinahe am Ende, da verlasse ich den Busch und drehe mich nochmal zu meinen beiden Teamkollegen um. Gerade will ich ihnen vorschlagen, singend in die gegnerische Basis zu hüpfen, da taucht GeneralAdonis97 hinter dem Busch auf, ersticht erst den Amerikaner und dann den Franzosen … und sieht mich nicht. Ich steche ebenfalls mit meinem Messer zu. General_Adonis97 ist nicht mehr mein Nemesis, ich bin einige hundert Punkte reicher, Bad Company 2 ist doch das perfekte Spiel und ich gehe endlich schlafen. Herrlich.
Derweil in einem mir völlig unbekannten Videospiel in irgendeinem virtuell nachgebildeten, südamerikanischen Dschungel.
Der Feind ist in der Basis umstellt. Moskitos schwirren durch die Luft. Es stinkt nach moderndem Laubwerk. Es ist gespenstisch still. Drei getarnte Soldaten hocken in einem Busch, die Waffen im Anschlag.
”Scheiße, wir kämpfen gegen Kinder!”, schreit der eine. Ein Sanitäter. Der Scharfschütze neben ihm nickt bedächtig. In seinem Zielfernrohr sieht er einen Soldaten aus einer Baracke in der feindlichen Basis stürmen. Vielleicht 14, höchstens 16 Jahre alt. Er kann nicht abdrücken.
Der Sanitäter kaut an einem Stück Maisbrot und spuckt es angewidert aus. “Scheiße! Nicht mal anständiges zu fressen gibts in diesem verdammten Krieg. Gibts in diesem gottverdammten Dschungel nicht irgendwelche Früchte? Ich will Erdbeeren!”.
”Erdbeeren sind keine Früchte. Hab ich mal gelesen.”, sagt der Scharfschütze.
”Was?”, der Sanitäter ist irritiert.
”Keine Früchte. Es sind wohl Nüsse. Glaube ich. Hab ich gelesen.”
”Wenns keine Früchte sind, warum heißen die dann Beeren, hm?”
”Keine Ahnung”, der Scharfschütze zuckt abwesend mit den Achseln.
Hinter ihnen räuspert sich ein Sturmsoldat. “Wenn die Erdbeere eine Nuss wäre, müsste sie ja Erdnuss heißen. Und der Name war ja schon vergeben. Vielleicht … also, das könnte ja … nicht?”
Die anderen beiden drehen sich um und blicken den Sturmsoldat streng an. Ein Schuss zischt über sie hinweg und trifft den Sturmsoldat am Kopf. Er sackt zusammen.
”Scheiße!”, der Sanitäter bückt sich hinunter zum Sturmsoldat.
”Was machst du?”, fragt ihn der Scharfschütze.
Der Sanitäter stutzt. “Ihn wiederbeleben?”
”Er hat eine verdammte Kugel im Kopf!”
”Oh.” Der Scharfschütze bückt sich hinunter zu dem Toten und fährt mit den Fingern über seine Augen. Sie schließen sich.
Sie gehen ruckartig wieder auf und der Sturmsoldat schreit die beiden Soldaten an “FUCK, VERDAMMTER!”
”Oh, du lebst ja noch!”, sagt der Scharfschütze.
”Ihr habt nichtmal versucht mich wiederzubeleben!”, schreit der Sturmsoldat entsetzt.
Der Sanitäter schaut verstohlen rüber zum Scharfschützen und zeigt mit dem Finger auf ihn, “Ich wollte ja, aber …”
”PAPPERLAPAP!”, sagt der Scharfschütze, “Wir dachten du wärst tot!”
”Habt ihr nachgeschaut?”
”Hm?”, der Sanitäter und der Scharfschütze schauen den Sturmsoldat unschuldig an.
”Nachgeschaut, ob ich tot bin?”
”Na, ja. Also …”, der Sanitäter ringt mit Worten, wird von ihnen aber recht mühelos zu Boden gedrückt.
Gerade wollten sie die Schuld auf die Erdbeeren schieben, die den Sanitäter und den Scharfschützen noch immer beschäftigt hätten, da ertönt knarzende Musik aus den Propaganda-Lautsprechern der Lagune. Französischer Chanson. Die Soldaten schauen sich fragend an. Sie sitzen angespannt in ihrem Busch, Moskitos schwirren um ihre Köpfe und die Musik dringt immer tiefer in diese hinein. Der Sanitäter fängt an zu weinen.
”Na, na, na …”, sagt der Scharfschütze, schluchzt und nimmt ihn in die Arme. Der Sturmsoldat fährt sich mit der Hand über die Augen und verzieht sein verheultes Gesicht. Alle drei singen lauthals in die Weite der Lagune hinein. In diesem Moment ist der Krieg belanglos. Der Krieg ist vergessen. Der Krieg steht mit blitzendem Messer hinter dem Busch und ersticht erst den Sturmsoldat und danach den Sanitäter. Der umschlingt den Arm des feindlichen Soldaten und zieht ihn zu Boden. Der Soldat brüllt los, er flucht. Er schweigt. Ist still. Der Scharfschütze zieht sein blutiges Messer aus dem Nacken des Soldaten, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht, holt tief Luft und starrt auf die drei Leichen, vor ihm auf dem Boden. Der Krieg ist wieder da, denkt er. Ich bin müde, denkt er. Verdammt!